Wiener Aufzug Museum Blog - Brüssels Art Nouveau Lifte - Teil 1
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Brüssels Art Nouveau Lifte – Teil 1

 

Ich erinnere mich noch gut daran, als mit Ende 2012 die originalen Jugendstil-Aufzüge aus den Wiener Stiegenhäusern verschwanden. Grund waren strengere Vorschriften für Personenaufzüge.

Auch anderswo in Europa wurden Gesetze für Liftanlagen verschärft. So auch aktuell in Belgien. Aber anders als in der Alpenrepublik regte sich dort Widerstand.

Paul Marien und Georges Soubasis, zwei passionierte Aufzug-Techniker, erzählten mir ihre Geschichte, und wie gemeinsam mit vielen Akteuren Pionierarbeit geleistet wurde.

 

Zwei passionierte Aufzug-Techniker: Georges Soubasis (li.) und Paul Marien (re.)

Zwei passionierte Aufzug-Techniker: Georges Soubasis (li.) und Paul Marien (re.)

 

 

Im Namen Ihrer Majestät

 

In Belgien gilt: Aufzüge, die vor dem 1. Januar 1958 zugelassen wurden, müssen sich einer Modernisierung unterziehen. Bis Ende 2022 müssen diese Arbeiten abgeschlossen sein, um einen weiteren Betrieb möglich zu machen. Ein königlicher Beschluss aus dem Jahr 2003 sieht dies vor. Damit soll geltendes EU-Recht umgesetzt werden.

Eine dramatische Situation für die geschätzt etwa 800 Liftanlagen der Art Nouveau- und Art Deco-Epoche im Land, welche durch diverse geforderte Umbauten ihren einzigartigen Charme für immer verlieren würden. Oder sogar zur Gänze aus den Gebäuden zu verschwinden drohen.

 

Historischer Waygood Lift Baujahr 1913 in Brüssel

Historischer Waygood Lift Baujahr 1913 in Brüssel

 

Das wollten viele Bürger*innen nicht einfach so hinnehmen und organisierten sich.
SAVE OUR ELEVATORS taufte sich ihre Initiative.

Maßgeblich daran beteiligt: Monsieur Paul Marien, passionierter Handwerker und Inhaber eines kleinen Liftunternehmens.
Gemeinsam mit engagierten Hauseigentümer*innen wurde das Thema in die breite Öffentlichkeit getragen und alternative Lösungen für stilgerechte Sanierungen erarbeitet.

 

Der Beginn einer spannenden Initiative, welche es letztendlich schaffen sollte, die Politik zum Umdenken zu bewegen.

 

Zu Gast in Brüssel

 

Großbürgerliche Häuserzeile im Brüssel Saint-Gilles

Großbürgerliche Häuserzeile im Brüssel Saint-Gilles

 

Schon sehr lange plane ich eine liebe Freundin in Brüssel zu besuchen.
 Auch, weil ich davon gelesen habe, dass die kunstvollen Art Nouveau- und Art Deco Lifte ein Ablaufdatum haben sollen.

 

Im Frühjahr 2020 lockte sie mich mit einem besonderen Event:

 Guck mal, bald findet wieder das Brüsseler Jugendstil-Festival Banad statt. An zwei Wochenenden gibt es die Möglichkeit, historische Aufzüge zu besichtigen!

Leider konnte ich aus verschiedenen Gründen nicht persönlich dabei sein, doch Astrid war dort und knüpfte Kontakte zu einem der Vortragenden. Es war Monsieur Paul Marien.

Motiviert wie sie ist, erzählte sie ihm von mir und dem Wiener Aufzug Museum.
Für meinem Besuch Mitte Oktober arrangierte sie kurzerhand ein Treffen für mich bei Herrn Marien zu Hause. 
Dabei sollte ich aus erster Hand erfahren, was hier für die belgische Aufzugs-Geschichte geleistet wurde.

 

Bonjour Monsieur Marien

 

Ich bin mit Astrid, welche mich als Dolmetscherin unterstützt, zu Gast bei Monsieur Paul Marien in einem Brüsseler Vorort.

Auf dem Tisch köstliche französische Patisserie. An der Wand eine großformatige Fotografie eines Aufzugportals.

„Dieses Bild ist eines von mehreren, welches vor ein paar Jahren bei der Ausstellung Lift Story zu sehen war“, werden wir aufgeklärt.

 

Bei Herrn Marien zu Gast

Bei Herrn Marien zu Gast

 

Paul Marien übernahm bereits mit 17 Jahren das Aufzugunternehmen seines Vaters.

„Ich wollte die Firma unbedingt weiterführen“, erzählt uns Paul, während er uns Kaffee serviert.

„Doch die mangelnde Volljährigkeit und Erfahrung machten es nötig, einen Geschäftsführer zu bestellen.

Erst im Alter von 25/26 Jahren ‚traute‘ ich mich, die Leitung zu übernehmen.“

 

Sein Vater Alphonse Marien gründete die gleichnamige Firma 1938. Durch die Kriegsgeschehnisse kam es aber erst in Friedenszeiten zu ersten Geschäften.
Zum Geschäftsumfang zählten Neuanlagen wie auch Wartung und Reparatur von Bestandsaufzügen.

 

Atelier Marien

 

Als Paul Marien die Geschäftsleitung schließlich selbst übernahm, änderte sich der Firmenname auf Atelier Marien, um die Initialen als Firmenlogo weiterführen zu können.

 

Originales Firmenschild

Originales Firmenschild

 

Vom Neubau von Liftanlagen wurde danach bald Abstand genommen, da Anfang der 1960er Jahre immer mehr Konkurrenz aus dem Ausland auf den belgischen Aufzugsmarkt drängt. Besonders Italien war hier sehr dominant.

„Ich möchte nicht einen aussichtslosen Preiskampf führen, sondern Qualität anbieten. In meinem Herzen bin ich mehr der Handwerker als der Unternehmer“, sagt Monsieur Marien.

 

Dies führte dazu, dass er sich auf die Sanierung und das Austüfteln von Einzelfalllösungen spezialisierte. Über hundert teils historische Liftanlagen betreute er zuletzt in Brüssel.

 

„Ich wollte gar keine neuen Aufträge mehr annehmen“, erzählt er weiter,

„aber da meldete sich Herr Dr. Gyory bei mir, mit der Bitte ihm bei der Anpassung eines Art Nouveau Liftes zu helfen.“

Es ging um den königlichen Beschluss von 2003 betreffend der „Modernisierung“ von Aufzugsanlagen.

 

Ich helfe Ihnen, Sie helfen mir

 

Im Haus der Eltern von Herrn Michel Gyory befindet sich einer der Brüsseler Lifte, welchem durch die neuen Gesetze massive Eingriffe in die Technik und das Erscheinungsbild drohten.

 

Ein Art-Nouveau Lift mit den klassischen Gittertüren (Akordeontüren), wie er noch in so einigen Brüsseler Bürgerhäusern in Betrieb ist.

Ein Art-Nouveau Lift mit den klassischen Gittertüren (Akordeontüren), wie er noch in so einigen Brüsseler Bürgerhäusern in Betrieb ist.

 

Im Haus der Eltern von Herrn Michel Gyory befindet sich einer der Brüsseler Lifte, welchem durch die neuen Gesetze massive Eingriffe in die Technik und das Erscheinungsbild drohten.
Doch Michel Gyory ist ein Rechtsanwalt, der auch als Dozent an den Universitäten von Liege und Wien arbeitet. Er sah Widersprüche in den Gesetzestexten.

 

„Die alten Aufzüge dürfen nicht in die für neue Aufzüge geltende Normenkiste gezwängt werden, sondern es ist zu prüfen, wie im Einzelfall die Besonderheiten der einzelnen Aufzüge berücksichtigt werden können.
Bei einer Modernisierung müssen nicht nur die technischen Merkmale des Aufzugs, sondern auch sein eventueller historischer Wert und seine Nutzung berücksichtigt werden. Man kann sich dabei an den Normen für neuere Aufzüge orientieren, wenn dies technisch und finanziell möglich ist – es dürfen also keine unverhältnismäßig hohen Kosten entstehen“, so Herr Gyory, welcher als Überraschungsgast ebenfalls mit uns am Tisch sitzt.

 

Herr Marien erkennt, dass sich die Kombination aus seinem technischen Know-how und der juristischen Expertise von Herrn Gyory für die Rettung der Brüsseler Aufzüge als sehr förderlich erweisen würde.

Er schlägt ihm vor:

„Ich helfe Ihnen, und Sie helfen mir.“

Ein weiterer zentraler Mitstreiter der Initiative „Save our Elevators“ war gewonnen.

 

SAVE OUR ELEVATORS

 

Der gemeinnützige Verein „Save our Elevators“ möchte informieren, betroffene Eigentümer*innen vernetzen und Öffentlichkeitsarbeit leisten. Eine Unterschriften-Petition wird gestartet, auf Veranstaltungen und über die Presse wird Lobbying für das Thema betrieben.

 

Ausstellungsplakat zur Ausstellung LIFTSTORY, welche von SAVE OUR ELEVATORS und HOMEGRADE BRUSSELS 2014 ins Leben gerufen wurde.

Ausstellungsplakat zur Ausstellung LIFT-STORY, welche von SAVE OUR ELEVATORS und HOMEGRADE BRUSSELS 2014 ins Leben gerufen wurde.

 

Der Staatssekretär für Denkmalschutz, Kulturerbe und Städtebau Pascal Smet, welcher selbst in einem Haus mit historischem Lift wohnt, konnte vom Verein als engagierter Unterstützer gewonnen werden. Er unterstützt die Initiative und stellte finanzielle Mittel zur Verfügung, welche eine professionelle Bestandsaufnahme der historischen Brüsseler Lifte ermöglicht.
Dabei sollten die Eigentümer entsprechende Anlagen registrieren, um eine konkrete Zahl an betroffenen Aufzügen zu erhalten.

 

Website: Verein Save our Elevators

 

Ein tolles Team

 

 

Georges Soubasis (li.) und Paul Marien (re.)

Georges Soubasis (li.) und Paul Marien (re.)

 

Ein anderer wichtiger Mitstreiter an der Seite von Paul Marien auf dem Gebiet der Lifttechnik ist Georges Soubasis.

 

Georges ist ebenfalls bereits 45 Jahre in der Aufzugbranche tätig.
 1975 wurde er direkt aus der Schule vom Unternehmen Westinghouse angeworben. Damals war dieses Vorgehen durchaus üblich. 
Nach dreijähriger Ausbildung zum Monteur kam er zur Abteilung für Reparatur und Fehlerbehebung, wo auch der erste Kontakt zu Altanlagen stattfand.
Nach acht Jahren wechselte er zu anderen Unternehmen, um seinen Erfahrungsschatz auszubauen. 2001 machte sich Georges schließlich selbstständig.

Das erste Mal haben sich Paul und ich 2004 bei einem Kunden von mir getroffen, um kleine technische Probleme zu besprechen. Da unsere Projekte sehr ähnlich sind, vereinigten wir von da an unser Know-how, was für unsere Kunden und deren Lifte nicht von Nachteil war und ist.

Anfangs nur Beobachter, wurde auch Georges für „save our elevators“ aktiv und begann mit Paul gemeinsam weiter an technischen Lösungen zu arbeiten, damit der Zustand historischer Aufzüge erhalten werden kann.

 

Savoir-faire

 

Durch die Kombination von Fachwissen aus Recht und Technik sowie der Unterstützung von politischen Akteur*innen war es möglich, individuelle Sicherheitslösungen für die schützenswerten Lifte zu entwickeln.

Und hier zeigte sich die Erfahrung und Herangehensweise an die Materie von Paul Marien und seinem Berufskollegen Georges Soubasis als wertvoller Schatz.

Ziel der beiden ist es, die wertigen Originalteile und das Zubehör so weit wie möglich beizubehalten und trotzdem gleichzeitig die Gefahren für die Benutzer*innen zu eliminieren.

 

„Für den mechanischen Teil reichen die ursprünglichen Sicherheitsmaßnahmen aus. So arbeiten wir daran, moderne elektrische und elektronische Sicherheit hinzuzufügen und sie so diskret wie möglich in die Installation einzubauen“: führt Georges aus.

 

Dadurch kann einem sonst geforderten Austausch von Gittern und Türen entgegengetreten werden. Die klassischen Akkordeontüren und die luftig wirkenden Gitterschächte bleiben erhalten.

Die als Methode Kinney getaufte Alternativmethode zur üblichen Risikenbeseitigung wurde nach zehn Jahren intensiver Arbeit offiziell von den Behörden als zulässig angenommen.
Ein sensationeller Erfolg!

 

Die Methode Kinney soll auch weiterhin die Optik solch offener Lift Schächte ermöglichen. Mit voller Sicherheit.

Die Methode Kinney soll auch weiterhin die Optik solch offener Lift Schächte ermöglichen. Mit voller Sicherheit.

 

„Für uns ist die Methode Kinney einfach die richtige Art zu arbeiten“, sagt Georges Soubasis.

 

Das Problem ist nur, dass unser Wissen zunehmend verloren geht, klagt Paul Marien.
„Es gibt zu wenig Nachwuchs, der sich noch wirklich mit der Wartung von diesen alten Geräten auskennt. Eine Initiative zur Schulung fand seitens der großen Liftfirmen leider keine Unterstützung“, gibt uns Paul aber zu bedenken.

Mittlerweile konnten Paul und Georges jedoch zwei junge interessierte Männer zu Fachkräften ausbilden, welche mit Engagement und Interesse an die alte Aufzugtechnik herangehen und das Wissen weitertragen.

 

Ein Umdenken der Politik

 

Durch die fundierte Argumentation konnte ein Erfolg erzielt werden.
 Aufzüge, die vor dem 1. Januar 1958 errichtet wurden, werden nun einer Bewertung auf ihren kulturhistorischen Wert unterzogen. 
Was nicht bedeutet, dass das gesamte Gebäude unter Denkmalschutz gestellt wird. Die Bewertung bezieht sich explizit auf die Aufzugsanlage.

Entspricht ein Lift diesen Kriterien, ist die Anwendung von individuellen technischen Lösungen zulässig.
Da diese Arbeiten nur mehr durch wenige Fachbetriebe angeboten werden, wurde zudem eine Verlängerung der Frist beschlossen.
Bis 31. Dezember 2027 sollen die Eigentümer jetzt Zeit für entsprechende Arbeiten.

 

Zum Abschied gab mir Paul Marien noch folgendes mit auf den Weg:

 

„Glaube nie etwas nicht zu schaffen, nur weil du denkst es nicht gelernt zu haben. 
Etwas zu tun ist das Allerwichtigste.“

 

Bestärkende Worte aus Brüssel, welche ich für die anstehenden Projekte mit nach Hause nehme.

Das Beispiel der „Save our Elevators“ Initiative zeigt, wie wichtig es ist, sich nicht nur zu beschweren, sondern sich bewusst zu sein, dass jeder einzelne etwas bewegen kann.