Ein Paternoster wird wachgeküsst - Wiener Aufzug Museum
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Ein Paternoster wird wachgeküsst

 

Das Sterben der Paternosteraufzüge scheint unaufhaltsam voranzuschreiten. Ihr Betrieb ist überhaupt nur geduldet, der Bau neuer Paternoster ist in Österreich seit den 1960er Jahren, in Westdeutschland seit 1974, seit der Wiedervereinigung in ganz Deutschland nicht mehr erlaubt.

 

Auf unserer Reise nach Hamburg, dem Eldorado der Paternoster-Liebhaber, begegnet uns das Projektteam um Robin Augenstein und Patric Wagner, die den Galliern aus „Asterix“ gleich den Trend in einem Fall umgekehrt haben.

 

Dank ihres Einsatzes wird der älteste, betriebsfähige Paternoster der Welt nach Jahrzehnten des Stillstands wieder in Betrieb gehen – und erstmals seit langem die Zahl in Betrieb befindlicher „Personen-Umlaufaufzüge“ wieder vergrößern.

 

Robin und Patric vor "ihrem" Paternoster

Robin und Patric vor „ihrem“ Paternoster

 

„Ganz alte“ Paternoster gibt es nicht mehr?

 

Paternosteraufzüge sind bekannt, fast jeder hat schon einmal davon gehört und so manch einer hatte auch schon einmal die Gelegenheit, den Mut bei einer „gefahrlosen“ Fahrt durch Dachboden und Keller unter Beweis zu stellen. Und wer sich weiter mit dem Thema befasst, wer nachsieht, wie ein Paternoster funktioniert und wo es wohl die ersten Paternosteraufzüge gab, der stolpert vielleicht über eine der historischen Abbildungen, die einen Paternoster der Frühzeit zeigt: Die Kabinen sind oben offen und es gibt keine Verkleidungen aus klappbaren Schürzen zwischen den Fahrkörben. Alles sieht offen aus, nahezu frivol gefährlich und ungeschützt – sicher völlig undenkbar, so einen Paternoster im Jahr 2022 vorzufinden.

 

Entdeckungszustand des Paternosters im Flüggerhaus

Entdeckungszustand des Paternosters im Flüggerhaus (Foto: Robin Augenstein)

 

Ältere Kenner erinnern sich noch an die letzten Exemplare, die man, zumeist stillgelegt, vereinzelt noch in den 1980er Jahren sehen konnte. Auch kennen einige vielleicht zwei „offenen Paternoster“ aus Dänemark – doch in Deutschland oder Österreich sind heute keine Spuren solcher Urpaternoster mehr zu finden, die Städte haben sich schön und sicher gemacht. Oder doch? An manchen Tagen erlebt man Unerwartetes!

 

Erweckt aus dem Dornröschenschlaf

 

Der Kunsthistoriker Robin Augenstein widmet seine Aufmerksamkeit der Gestaltungshistorie von Fahrstühlen, schreibt sogar gerade an einer Dissertation zum Thema.

 

Bei Recherchen findet er immer wieder von einer Spur zum nächsten Fundstück und beginnt Puzzlestücke zusammenzufügen. Das Jagdfieber ist geweckt und das Auge wird durch Erfahrung geschult.

 

Zufällig fährt er mit dem stets suchenden und wachsamen Blick mit der Hochbahn durch Hamburg und erblickt aus dem Fenster das „Flügger-Haus“ vorbei. Der Bau scheint leer zu stehen und er sieht interessant aus.

 

Die Hochbantrasse vor dem Flüggerhaus

Die Hochbahntrasse vor dem Flügger-Haus

 

Robin Augenstein wirft einen Blick auf den archivierten Grundriss des Gebäudes und findet einen Paternosteraufzug eingezeichnet. Um vor Ort nach Spuren zu suchen und die heutige Situation zu erfassen, fährt der damalige Student im Spätsommer 2018 zum Flüggerhaus am Rödingsmarkt 19 im Stadtteil Hamburg-Altstadt.

 

Nur selten findet der Liebhaber historischer Aufzüge einen „Golden Nugget“, aber im Flügger Haus landet Augenstein den Volltreffer.

 

Der originale Paternoster aus dem Jahr 1908 befindet sich noch immer, geschützt hinter einer Trockenbauwand, in seinem Schacht. Auch der Antrieb ist noch vorhanden und nach Abbau der Gipswände offenbart sich, dass der Paternoster noch vollständig erhalten ist. Der Fund ist einzigartig in vielerlei Hinsicht: Es ist, soweit bekannt, der älteste, vollständig erhaltene Paternoster der Welt, der einzige erhaltene ohne „Schürzen“ in Deutschland – und zudem der einzige bekannte, erhaltene Paternoster der Firma Wimmel & Landgraf aus Hamburg, also der Firma, auf der der heutige, globale Aufzugkonzern TKE (ThyssenKrupp Elevator) beruht.

 

Grundrissplan Flüggerhaus Hamburg

Grundrissplan Flüggerhaus Hamburg

 

Dieser Paternoster soll nicht nur erhalten bleiben, er soll auf wieder laufen, befindet Robin Augenstein. Seinem inzwischen abgeschlossen Studiums der Kunstgeschichte wird er eine Promotion anschließen, in der er sich mit dem Denkmalschutz für historische Aufzüge auseinandersetzen wird. Der Fund im Flüggerhaus eignet sich bestens als „Praxisteil“ der Arbeit.

 

Der befreundete Aufzugspezialist Patric Wagner, Inhaber der Firma Aufzugdienst Imbora, untersucht die Anlage, tauscht Öl, überprüft die Elektrik und startet den alten Wimmel & Landgraf nach über 40 Jahren des Stillstands. Erstaunlich ruhig läuft die Maschinerie, gemächlich schweben die offenen Fahrkörbe durch den offenen Schacht an den Etagen vorbei, begleitet vom Surren des im Keller befindlichen Antriebs.

 

Patric und Jan im Maschinenraum des Paternosters

Patric und Jan im Maschinenraum des Paternosters

 

Reanimation – Ein Sanierungskonzept

 

Der Eigentümer des Flüggerhauses, die Signa Holding, unterstützt die Restaurierung und Wiederinbetriebnahme des Paternosters. Der historische Wert und die Besonderheit werden erkannt. Hamburg ist auch für die Paternosteraufzüge in seinen Kontorhäusern bekannt – doch immer weniger von ihnen sind noch vorhanden.

 

Den ältesten Paternoster der Welt in einem Hamburger Gebäude zu haben, kann ein „Unique Selling Point“ oder „das gewisse Extra“ für eine Immobilie sein, so dass die Wiederinbetriebnahme durchaus gerechtfertigt erscheint. Zudem wird der Paternoster nach Fertigstellung der Gebäudesanierung in einem nicht öffentlich zugänglichen Bereich liegen, wodurch das Sicherheitsrisiko verkleinert wird.

 

Plexiglasschürzen in Produktion

Plexiglasschürzen in Produktion (Foto: Patric Wagner)

 

Leider ist der Weiterbetrieb des Paternosters ohne Anpassungen nicht möglich, jedoch entwickeln Robin und Patric ein Konzept mit Schürzen aus Plexiglas. So wird der Blick in den Schacht erhalten und der Sicherheit ist Genüge getan – zudem ließen sich derartige Schürzen wieder entfernen, so dass der Paternoster jederzeit wieder in den Originalzustand zurückversetzt werden kann. Zu Beginn der Restaurierung entfernt Patric alle Kabinen.

 

Dabei stellt er fest, dass mehrere der oberen, C-förmigen Kabinenrahmen, manch einer würde sie „obere Joche“ nennen, gebrochen waren. Wagner lässt die Bruchstellen von einem zertifizierten Schweißer reparieren und prüfen, so dass einem Wiedereinbau nichts entgegensteht.

 

Ausgebauter Kabinenrahmen mit Gusskranz nach der Reparatur

Ausgebauter Kabinenrahmen mit Gusskranz nach der Reparatur (Foto: Patric Wagner)

 

Aufmerksamkeit geweckt – Neue Bekanntschaften schließen

 

Die Entdeckung und Restaurierung des weltältesten Paternosters ziehen auch die Aufmerksamkeit der Medien auf sich, so berichten nicht nur Hamburger Tageszeitungen über das Projekt, sondern auch die „Zeit“ und die Tagesthemen des Ersten Deutschen Fernsehens (ARD) widmen dem Thema einen Beitrag. [Link am Textende]

 

Durch die Medienberichte wird auch ein ehemaliges Fotomodell aufmerksam und setzt sich mit Robin in Verbindung. In den 1970er Jahren wird sie für die Firma Philips in genau diesem Paternoster fotografiert. Das Foto dient einer Werbekampagne der Firma Philips für tragbare Röhrenfernseherin knalligen Farben. Natürlich hat sie auch einen großformatigen Abzug, den sie Robin überlässt.

 

Dies ist eine der vielen kleinen Geschichten, die sich bei der Beschäftigung mit einem solchen Thema ergeben – und sie bringt sogar weitere Erkenntnisse für die Restaurierung des Paternosters: Auf den Fotos ist noch die originale Beschilderung zu erkennen, welche am Rödingsmarkt 19 bereits vor der Wiederentdeckung des Paternosters ihren Weg in Sammler- oder Souvenirjägerhände gefunden hat.

 

Stelldichein in Hamburg

 

Natürlich darf ein Besuch des Wiener Aufzugmuseums bei einem so seltenen Fund nicht ausbleiben. Christian und Jan treffen sich im November 2021 mit Robin und Patric. Als Höhepunkt des im Blog vom 8. Dezember 2021 beschriebenen Hamburg-Spaziergangs besuchen wir den Wimmel & Landgraf Paternoster am Rödingsmarkt 19.

 

Robin und Patric führen uns durch die Baustelle Flüggerhaus

Robin und Patric führen uns durch die Baustelle Flüggerhaus

 

Zu diesem Zeitpunkt sind die Fahrkorbrahmen von der Reparatur und gründlichen Reinigung bereits zurückgekehrt und wieder eingebaut, jedoch sind die Holzwände der Kabinen noch in Arbeit. Patric kann somit nur die Bewegung des Paternosters vorführen, die Mitfahrt ist aus Sicherheitsgründen jedoch nicht möglich. Einzigartig ist jedoch die Gelegenheit, die Mechanik in ihrer Gänze zu beobachten, da ohne die Kabinenwände der Blick auf die Ketten und Polygonscheiben (oder verständlicher: „Kettenräder“) völlig uneingeschränkt ist. An der Umkehrstelle im Keller bieten sich interessante Perspektiven durch einer Maueröffnung an der Rückseite des Maschinenraums, durch welche man das Spiel der Räder und vorbeiziehenden Kabinen beobachten kann.

 

Obere Umkehr im Paternosterschacht

Obere Umkehr im Paternosterschacht

 

Nicht nur den Paternoster gibt es im Flüggerhaus – Patric führt uns auch einen stillgelegten Kelleraufzug vor, der 1931 von der ehemaligen Hamburger Firma Leichsenring gebaut wurde sowie einen kleinen Aktenaufzug, der vom gleichen Hersteller wie der Paternoster geliefert wurde und auch das gleiche Baujahr, 1908, trägt.

 

Auch der stillgelegte Lastenaufzug Bj. 1931 bleibt erhalten

Auch der stillgelegte Lastenaufzug Bj. 1931 bleibt erhalten

 

Viele Details im Flüggerhaus vermitteln einen besonderen Charme – sei es die enge, gewendete Stahltreppe in den Keller, die großen und vielfach unterteilten Fenster oder die großen Flächen der leergeräumten Etagen, welche typischerweise in Kontorhäusern eine individuelle Raumaufteilung durch die Mieter ermöglichten.

 

Das Flügger-Haus

 

Anstelle zweier Vorgängerbauten am Rödingsmarkt 19 und 20, welche die Firma Flügger 1907 abreißen ließ, entstand im Jahr 1908 das neue Flüggerhaus. Nur die unteren beiden Etagen wurden selbst von der Firma Flügger, einem Hersteller von Farben und Pinseln, genutzt – die restlichen Etagen wurden vermietet.

 

Interessante Geschichten zu diesem Gebäude gibt es viele, so wie die Geschichte, dass der Hersteller der „Michel-Mütze“ Gustav Oelkers hier seinen Firmensitz hatte oder dass der erste Stock des Hauses so umgestaltet wurde, dass er den in der Hochbahn direkt vor dem haus vorbeifahrenden Passagieren eine Art „Schaufenster“ bot. Seit 1997 steht das Gebäude unter Denkmalschutz.

 

Fassadenansicht Flügger-Haus

Fassadenansicht Flügger-Haus (Foto: Jan Dumno)

 

Nur wenig wurde in den letzten Jahrzehnten vor dem Erwerb durch Signa investiert – ein Umstand, dem vermutlich zu verdanken ist, dass der Paternoster weiterhin hinter der Gipswand seinen Dornröschenschlaf halten konnte und nicht durch „Modernes“ ersetzt wurde. Ebenso ist die Tatsache, dass der Paternoster im originalen Zustand erhalten ist, gerade dem Umstand zu verdanken, dass er in den 1970er Jahren stillgelegt wurde und so nicht geforderten Umbauten zu Opfer fiel.

 

Resümee

 

Eine spannende Geschichte – der Fund ist heute so einzigartig, obwohl seine Bedeutung sehr viel allgemein gültiger ist. So sahen sie aus, die Hunderten Paternoster, die zum Hamburg gehören wie zu keiner anderen Stadt auf der Welt. Es ist nur dieser einzige bekannt, der noch betriebsfähig und vollständig im Originalzustand erhalten ist. So positiv auch der Fund und die Wiederinbetriebnahme zu bewerten sind, was zweifelsohne der Fall ist, so wird die alte Anlage erneut dem Einfluss von Behördenforderungen hinsichtlich der Betriebssicherheit und geforderter Umbauten ausgesetzt und wird der Erhalt und Betrieb nur unter der Voraussetzung erfolgen, dass das wirtschaftliche Umfeld dieses wünscht und zulässt. Wir bleiben gespannt.

 

 

Bericht: Jan Dumno 

Fotos: Christian Tauss / Robin Augenstein / Patric Wagner 

 

Links zum Thema (Eine Auswahl)

 

NDR (Norddeutscher Rundfunk)
https://www.ndr.de/kultur/Flueggerhaus-Aeltester-Paternoster-der-Welt-faehrt-wieder,paternoster166.html

Zeit
https://www.zeit.de/news/2022-05/16/wohl-aeltester-paternoster-der-welt-faehrt-bald-in-hamburg

Hamburger Abendblatt
https://www.abendblatt.de/hamburg/article235365429/paternoster-aeltester-der-welt-hamburg-roedingsmarkt-kunsthistoriker-flueggerhaus.html

Tagesschau / Tagesthemen auf YouTube
https://www.youtube.com/watch?v=lZyadRCFmdE

Flüggerhaus
https://de.wikipedia.org/wiki/Fl%C3%BCggerhaus

Imbora Aufzudienst
https://www.imbora.de